7. Editionswissenschaftliches Kolloquium
Berlin, 21.–22. Oktober 2005
Digitale Edition
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– Work in Progress: Vom Digitalisat zum edierten Text
Es ist nicht nur ein Gebot unserer Zeit, einzelne Quellen und Quellensammlungen zugänglich zu machen, bevor ein Editions(teil)unternehmen vollendet oder ein Archiv vollständig dokumentiert wird. Es ist weiters ein Gebot der wissenschaftlichen Grundprinzipien, Forschungsergebnisse nachvollziehbar und die dahinter stehenden Prozesse transparent zu gestalten. Daraus ergibt sich zwingend, sich auch der am besten geeigneten Medien und Techniken zu bedienen, um diesen Geboten Folge leisten zu können.
An der Grazer Abteilung für Historische Fachinformatik und Dokumentation wurde und wird an Lösungen gearbeitet, welche theoretisch, methodisch und (arbeits-)technisch die genannten Forderungen in die Realität herunterbrechen. Dazu zählen in besonderem Maße die Methode der Integrierten Computergestützten Edition als Grundlage und die Fontes Civitatis Ratisponensis als Anwendungsbereich. Am Beispiel dieser beiden Bereiche wird gezeigt, wie ursprüngliche Editionsprojekte ihre Grenzen überwinden und sich im Schnittbereich von Geschichts-, Informations-, Dokumentations- und Archivwissenschaften positionieren. Neben der Suche nach dem richtigen Text werden auch Aspekte wie Reliabilität, langfristige Sicherung und Zugänglichkeit zu zentralen Arbeitsschwerpunkten.
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– Die disziplinierte Edition – Eine Wissenschaftsgeschichte
Gibt es eine spezifisch historische Editorik? Vom Prinzip her nicht: Die überlieferten Dokumente sind unabhängig von ihrer fachwissenschaftlichen Verwendung, und die historische Edition folgt im wesentlichen dem Modell der historisch-kritischen Ausgabe, wie es in den Philologien entwickelt worden ist. In der Praxis erweist sich die historische Edition tatsächlich aber doch als fachgebunden: Die Entwicklung in den Philologien ist lange schon über die historisch-kritische Ausgabe hinausgegangen und heute vornehmlich an der Integrität, Authentizität und Historizität der Dokumente interessiert. Daraus ergibt sich die merkwürdige Situation, dass historische Editionen heute oft einem philologischen Ideal folgen, während philologische Editionen einem historischen Leitbild verpflichtet sind. Mit dem Wandel der Medien und Technologien entsteht eine gänzlich neue Situation. Selbst die tiefsten Fundamente der Editorik, die Vorstellung davon etwa, was eigentlich der zu edierende Text sei, sind erschüttert. Wir brauchen deshalb eine neue editorische Theorie, die die Edition als umfassenden (und dann wieder modularisierbaren) interdisziplinären Informationsraum begreift und für die Praxis operationalisiert.
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– Möglichkeiten und Probleme der Online-Recherche von Archivgut
Aus archivischer Sicht sind nicht die eigentliche Digitalisierung oder die Online-Edition von Archivgut das zentrale Problem künftiger Quellenpräsentationen im Internet, sondern vielmehr die Erschließung der Informationen und die Bereitstellung geeigneter Recherchewerkzeuge für die massenhaft anfallenden Daten. Der Vortrag stellte die derzeit gängigen Zugangskonzepte archivischer Internetpräsentationen vor und ging der Frage nach, ob künftig hyperlinkbasierte Themenkontexte oder benutzerspezifische Portale, die selbstlernend und kooperativ Recherchefunktionen und Benutzungsverwaltung verknüpfen, neue Wege aus dem alten Dilemma der Archivare weisen können, das stichwortgerichtete und pertinenzinteressierte Suchen der Benutzer in eine provenienzgerechte und kompetenzorientierte Recherchestrategie zu übersetzen.
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– Die digitalen Monumenta Germaniae Historica
Nachdem sich gezeigt hatte, dass der erste Versuch, den Bestand der MGH-Editionen zu digitalisieren, nicht den Anforderungen der Historiker genügt (sog. „elektronische MGH“ bzw. „eMGH“), wurde beschlossen, einen Neuanfang zu wagen. In Kooperation mit der Bayerischen Staatsbibliothek und gefördert durch die DFG, werden in der Zeit von 2004 bis 2010 sämtliche Editionsbände der MGH kostenlos im Internet für jedermann zugänglich gemacht. Grundsätzlich soll auch in Zukunft jeder Band aus Rücksicht auf den Buchmarkt fünf Jahre nach dem Erscheinen in die „digitalen Monumenta“ (dMGH) aufgenommen werden. Derzeit sind von fast allen Bänden die Bilddateien unter der Adresse http://www.dmgh.de/ einsehbar. Ab 2006 werden auch die ersten Bände mit hinterlegtem Volltext zur Verfügung stehen. Erschlossen werden soll das Korpus dann durch die Möglichkeit zur Volltextsuche. Doch der Mehrwert der dMGH könnte in Zukunft nicht nur in der bequemen Zugänglichkeit und der Volltextrecherche liegen, sondern auch darin, dass ergänzende und verbessernde Materialien in das Angebot integriert werden. Um dieses Vorhaben in Angriff zu nehmen, ist eine breite Akzeptanz der dMGH in der Wissenschaft erforderlich und eine rege Diskussion darüber, wie eine solche Integration mit anderen Angeboten aussehen soll.
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– Geschichtsquellen auf polnischen Internetseiten
Im Zeitalter der sich entwickelnden EDV-Technologien ist das Internet auch in Polen zu einem immer weiter verbreiteten Medium geworden. Polnische Internetservices und -portale lassen sich nach dem Zweck der Veröffentlichung einer Geschichtsquelle unterscheiden. Sind Internetseiten auf Repräsentations- oder Bildungszwecke ausgerichtet, hat man sich bemüht, den visuellen Wert des archivalischen Materials zu unterstreichen. Stehen wissenschaftliche Ziele im Vordergrund, zeichnen sie sich durch eine fortgeschrittene Methodik aus.
- Posen in Dokumenten zum 750. Jahrestag der Stadtgründung (Online-Ausstellung)
- 500 Jahre Verabschiedung des Promulgationsgrundsatzes des Rechts in der Adelsrepublik der polnischen Krone und des Herzogtums Litauen
- Schätze in polnischen Archive (Portal polska.pl)
- Städte im archivalischen Dokument (Portal polska.pl)
- Cartographia Toruniana (entwickelt an der Universität Thorn)
- Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Kórnik (Datenbanken: Alte Drucke, Handschriften, Diplome, Zeitschriften, Kartografie, Handschriftliche Zeitungen)
- Sammlung Dworzaczek (entwickelt von der Bibliothek PAN in Kornik)
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– Polnische Quelleneditionen auf CD-ROM
Bei der Besprechung der Geschichte von polnischen Quelleneditionen auf elektronischen Datenträgern muß vom Jahr 1994 ausgegangen werden, also von der ersten Tagung der polnischen Abteilung der Association for History and Computing und des Ausschusses der EDV-Methoden der Polnischen Historischen Gesellschaft in Posen. Auf diesem Treffen begann der Informationsaustausch der polnischen Geschichtswissenschaft über die Nutzung von digitalen Medien in Forschung und Lehre.
Die Arbeiten an der Veröffentlichung von Quellen auf Datenträgern entwickelten sich nicht gleichmäßig, und letztendlich bewegten sie sich in zwei Richtungen. Die erste mit hohem Aufwand verbundene Ausrichtung beruhte auf der elektronischen Aufarbeitung von neuen, noch nicht veröffentlichten Quellen. Da hierfür Kenntnisse der Editionstechniken Voraussetzung sind, blieb sie weiterhin eine Domäne der Historiker. Wegen des hohen Arbeitsaufwandes ist die Anzahl der auf diese Weise veröffentlichten Quellen sehr bescheiden geblieben. Diese Richtung wird von drei elektronischen Publikationen repräsentiert: die Sammlung Dworzaczek, die Kronenmatrikel des Henryk Walezy 1573–1574 und die Dokumente zur Geschichte der Stadt Posen. Viel fruchtbarer ist die jüngere zweite Ausrichtung. Sie beruht auf der Digitalisierung traditionell veröffentlichter Quellen. Der Markt für diese Veröffentlichungen wird von Kreisen beherrscht, die nur wenig mit der Geschichtswissenschaft verbunden sind – es handelt sich um kommerziell ausgerichtete Verlage und Privatpersonen –, was jedoch keinesfalls den Wert in Frage stellt. Diese Richtung wird durch den Verlag Inicjał in Łódź repräsentiert, der bereits über zehn Ausgaben auf CD-ROM veröffentlicht hat. In diesen Zusammenhang gehört auch die Publikation der genealogischen Datenbank zum polnischen Wappenbuch des Adam Boniecki.
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– Der Codice Diplomatico Digitale della Lombardia medievale. Die digitale Edition der lombardischen Urkunden bis zum Ende des 12. Jahrhunderts
Der digitale Codex Diplomaticus der mittelalterlichen Lombardei, ein Projekt des Dipartimento storico-geografico der Universität Pavia, wurde im Herbst 2000 in Angriff genommen; entwickelt und koordiniert wird es von Michele Ansani. Ziel des Projekts ist es, eine Online-Edition aller bis in das 12. Jahrhundert datierten Urkunden zu entwickeln, die in den Archiven kirchlicher und ziviler Institutionen der Lombardei aufbewahrt werden. Eine Besonderheit des Projekts besteht in der Anwendung einer speziellen Kodierung für die digitale Edition der Urkunden. Die Dokumente sind mit XML (eXtensible Markup Language) verschlüsselt und folgen einer bestimmten Document Type Definition, die speziell dafür entwickelt wurde. So können die Struktur und der Aufbau der Urkunden auf mehreren Ebenen unter Berücksichtigung der einzelnen Bestandteile mit typisch diplomatischen Kriterien analysiert werden. Dank dieser Kodierung, die unter anderem die vollständige Markierung unter Einbeziehung der Personennamen, der Ortsbezeichnungen und der kirchlichen Institutionen vorsieht, kann die Suchmaschine Tresy, die eigens dafür implementiert wurde, Begriffe frei im Text suchen oder strukturierte Recherchen im ganzen Korpus der bisher über 4000 edierten Dokumente vornehmen und Häufigkeitslisten der Personennamen, der Ortsbezeichnungen und der kirchlichen Institutionen erstellen.
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– Das ‚Speculum maius‘ des Vinzenz von Beauvais in digitaler Edition als Desiderat der Forschung
Daß die kritische Ausgabe der Werke des Vinzenz von Beauvais ein Desiderat der Forschung darstellt, ist bereits seit 72 Jahren klar. Dennoch ist die umfangreichste mittelalterliche Enzyklopädie, das ‚Speculum maius’ (1244–1259), immer noch nicht im ganzen kritisch ediert. Der Grund dafür ist der große Umfang des Werks, das zudem in verschiedenen Versionen bekannt ist, weiterhin die reiche handschriftliche Überlieferung sowie die Vielzahl der schwierig zu identifizierenden Zitate. Besonders wegen der zahlreichen Textzeugen ist seit mindestens zehn Jahren anerkannt, daß für die kritische Ausgabe der Werke des Vinzenz von Beauvais eine Online-Prä-Edition nützlich sein kann.
Die Datenbank des Atelier Vincent de Beauvais in Nancy befindet sich auf einer eigenen Website: http://www.univ-nancy2.fr/MOYENAGE/VincentdeBeauvais/vdbeau.htm. Ihr wichtigster Teil ist das gesamte ‚Speculum historiale’ auf der Grundlage der Handschrift Douai B. M. 797, allerdings ohne einen Nachweis der Zitate. Als Grundlage der zukünftigen Edition ist die Auswahl dieses Textzeugen problematisch, weil er zwei verschiedene Versionen des Werks verbindet: die so genannte Saint-Jacques-Version in den Büchern 1–8 und die Douai-Version in den Büchern 9–32. Mit der Online-Edition liegt also kein homogener Text des ‚Speculum historiale vor.
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– Massenquelle und Digitalisierung. Die Londoner Zollakten aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts
Vorgestellt wurde ein außerordentlich umfangreicher Quellenbestand, der durch seinen schlechten Erhaltungszustand zudem große Probleme bei der Edition aufwirft. Die Alternative zu einer Buchveröffentlichung der meist einheitlich gestalteten Materialien stellt eine digitale Ausgabe auf CD-ROM dar, die sämtliche Texte enthält und diverse Suchvorgänge und Verknüpfungen erlaubt. Die Gefahr eines Mißbrauchs von wissenschaftlichen Daten bei freiem Zugang im Internet wurde eigens betont.
Vorstellung laufender Projekte
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– Constitutiones et acta publica. Geschichte und Gegenwart einer MGH-Edition
Die Reihe der Constitutiones wurde im letzten Viertel des 19. Jahrhundert ins Leben gerufen als Auswahledition speziell zur Verfassungs- und Rechtsgeschichte des römisch-deutschen Reiches. In einem ersten großen Publikationsschub von 1893 bis 1927 wurden die Materialien bis ins 14. Jahrhundert bearbeitet. Die Deckungsgleichheit des publizierten Materials mit den Interessen der damaligen Forschung ist augenscheinlich, die Constitutiones-Bände bedienten die Forschungsansätze zur Reichsgeschichte nahezu bruchlos. Nach einer großen Publikationslücke wurden die Editionsarbeiten erst in den siebziger Jahren wieder aufgenommen, wobei das alte Editionskonzept auf eine vollständig veränderte Forschungslandschaft traf. Zum Problem der angemessenen Kontinuität der Constitutiones-Reihe kam erschwerend hinzu, dass es für das 14. Jahrhundert keine Fortsetzung der Diplomata-Reihe gibt (und geben wird), so dass die Constitutiones traditionelle Editionsfelder der Diplomata mit übernehmen mussten. Für die zukünftige Vollendung der Constitutiones wird die Weiterentwicklung der Auswahlkriterien neben der Einbeziehung der modernen digitalen Editionstechniken im Vordergrund stehen. Der Buchproduktion wird eine entsprechende Internet-Version an die Seite zu stellen sein. Ein noch ungelöstes Problem stellt die Möglichkeit resp. Dringlichkeit der Faksimilierung für die Online-Version dar.
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– Die Edition der spätmittelalterlichen päpstlichen Kameralakten in Polen
Unter den Editionen päpstlicher Quellen mit Polenbezug findet sich keine, die sämtliche Arten der päpstlichen Akten umfassen würde. Die Herausgeber beschränkten sich auf Bullen und Suppliken, von den Akten der Apostolischen Kammer hingegen wurde nur ein Teil des Materials verlegt. In der Serie Monumenta Poloniae Vaticana liegt ein Großteil der Materialien aus dem 14. Jahrhundert vor, zum 15. wurde jedoch bis dato fast nichts publiziert. Eine Ausnahme bilden Auszüge aus jenen Kameralakten, welche die Servitienzahlungen der polnischen Bischöfe betreffen. Diese sind allerdings äußerst fehlerhaft und erfordern eine Neuauflage. Es wurde auch keine Methode zur Herausgabe der Kameralakten erarbeitet. Für Polen erscheint dies angesichts der Materialfülle besonders relevant, zumal eine einfache chronologische Reihung nicht zielführend ist. In der gegenwärtig vorbereiteten Quellenedition zur Apostolischen Kammer, die das 15. Jahrhundert betreffen wird, wurde die chronologische Reihung verworfen. Notizen aus den verschiedenen Kategorien der Manuskripte, die sich auf dasselbe Benefizium beziehen, werden in Gruppen zusammengefasst. Auf diese Art werden der bürokratische Ablauf an der Kurie und das Procedere der Benefizienvergabe veranschaulicht.